Demenzsensible Architektur ist nicht nur für die Gesundheits- und Sozialwirtschaft ein Thema.
So lange es kein wirksames Mittel gegen Demenz gibt, wird mit der steigenden Lebenserwartung auch die Zahl demenzerkranker Menschen steigen. Kognitiv eingeschränkte Menschen werden zunehmend in allen Bereichen der Gesellschaft präsent sein – im Alltag, in Pflegeheimen, in Krankenhäusern. Bislang aber ist Architektur hauptsächlich in speziellen Einrichtungen auf Menschen mit Demenz angepasst.
Architektonische Anpassungsmaßnahmen
Prof. Dr.-Ing. Gesinde Marquart von der TU Dresden formulierte 2015 drei Hauptziele für architektonische Anpassungsmaßnahmen:
- Sichtbarkeit erhöhen
- Aktivitäten fördern
- Orientierung unterstützen
Menschen mit Demenz brauchen klar strukturierte Räume. Ein Übermaß an Farben, Geräuschen und Gegenständen verstärkt die Desorientierung und sorgt für erhöhte Unsicherheit. Ein funktional eindeutig gestaltetes Umfeld aber hilft ihnen. Als Referenz- und Orientierungspunkte sind Cafés, gestaltete Nischen in Fluren oder gute Licht- und Farbkonzepte geeignet.
Ein Wohnbereich für Menschen mit Demenz wird oft nur als „geschützte Abteilung mit Rundlauf“ definiert und bestellt. In Zeiten, in denen die Menschen dann nicht nach draußen können, bringen Korridore, die entlang der Fassade verlaufen, Oberlichter oder Wintergärten Tageslicht in den Wohnbereich. Generell lindert eine an die Tageszeit angepasste (circadiane) Beleuchtung die Unruhe bei Menschen mit Demenz und gibt ihnen zeitliche Struktur.
Akustik: Demenzkranken Menschen fehlt aufgrund hirnorganischer Veränderungen ein Abschirmmechanismus, so dass akustische und visuelle Reize sie ungefiltert erreichen. Hinzu kommt: Sie können die Reize nicht mehr richtig zuordnen. Hallende Räume sind für demente ungünstig, ein plätschernder Brunnen kann dagegen Orientierung bieten.
Licht und Farbe: Felix Bohn, Architekt und Gerontologe aus Zürich (Schweiz) ruft dazu auf, viel Wert auf Licht und Farbe zu legen. Bei diesem Krankheitsbild werden optische Eindrücke fehlinterpretiert. So können Farbwechsel im Belag demenziell erkrankte Menschen in ihrer Bewegung stoppen weil beispielsweise dunkle Beläge als Abgründe, spiegelnde Beläge als Wasser interpretiert werden. Stark gemusterte Bodenbeläge und Wände wirken plastisch oder furchteinflößend. Demente sehen Flecken als Objekte und versuchen, diese aufzuheben. Bodenbeläge sollten durchgehend dasselbe Material und dieselbe Farbe haben. Gleichzeitig sind Kontraste wichtig: Kognitiv eingeschränkte Menschen sehen Gegenstände (Tisch, Stuhl oder auch den Toilettensitz) schlecht, wenn sich diese nicht deutlich vom Boden- oder Wandbelag abheben.
Inklusion: Quartiers-Ansätze
Welche Auswirkungen hat der erwartete Anstieg dementer Menschen in der Gesellschaft auf den Städtebau?
In Dänemark wurde die Seniorenbetreuung vor 25 Jahren revolutioniert. Damals lebten noch 80% der Pflegebedürftigen in einem Altenheim. Heute sind wenig mehr als 10% an eine traditionelle Institution gebunden. Die erste Devise der Pflegereform war: Möglichst lange im eigenen Zuhause leben. Folgerichtig müssen in Dänemark sogar Privatpersonen die Vorschriften zum altersgerechten Bau einhalten. Es gibt inzwischen zahlreiche technische Möglichkeiten, demente Personen zuhause zu überwachen, so dass ein längeres selbstbestimmtes Leben möglich ist.
Betreuung im gewohnten Umfeld: Aus den Niederlanden kommt ein weiteres spannendes Modell, das Modell Buurtzorg (Nachbarschaftshilfe). Dies ist ein ambulanter Krankenpflegedienst mit 10.000 Mitarbeitenden. Sie beraten Patienten dahin gehend, wie sie selbst dazu beitragen können, ihre Unabhängigkeit zu erhalten oder wieder zu erlangen. Der zweite Schritt ist der Aufbau eines informellen Netzwerks bestehend aus Familienangehörigen, Nachbarn und Freunden.
Die dritte Ebene der Betreuung umfasst die tatsächlichen pflegefachlichen Tätigkeiten. Zuletzt erfolgt der Aufbau eines stabilen verlässlichen formalen Netzwerkes bestehend aus Hausarzt, Spezialisten, Apotheke, Krankenhaus, und anderen lokalen und überregionalen Diensten, die Patienten in Anspruch nehmen. Belgien hat dieses Modell bereits übernommen, und auch in Deutschland gibt es konkrete Ansätze.
Städtebauliche Auswirkungen: Auf volle Inklusion setzt das aktuelle Projekt Heidelberg Village. In diesem Modell, einem ganzen Stadtquartier, sollen Menschen unterschiedlichsten Alters, Herkunft, Gesundheit nachbarschaftlich zusammenleben. Der bautechnische Facettenreichtum ist die Voraussetzung. Menschen mit Demenz sollen hier in einer Demenz-WG unterkommen. Ob sich dieses Modell bewährt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
Kleinteiliges Wohnen
Prof. Jos Schols von der Maastricht Universität (NL) ist sicher: Kleinteiliges Wohnen erhöht die Lebensqualität von Dementen. Das erste Projekt dieser Art hat es zu weltweiter Bekanntheit gebracht: Es ist das niederländische Demenzdorf De Hogeweyk.
Demenzdörfer: De Hogeweyk ist zwar schon etwas älter (eröffnet 2009), aber auch heute noch beeindruckend. Und es funktioniert. Es ist konzipiert als der letzte Wohnort der Menschen, die durchschnittlich noch maximal zwei Jahre Lebenserwartung haben. Durch die selbstständige und aktive Lebensweise ist weniger Aktivierung und Medikation nötig. Das Architekturbüro Molenaar&Bol&VanDillen Architecten, das de Hogeweyk realisiert hat, übertrug seine Erfahrungen in ein weiteres Demenzdorf in Dänemark, Aalborg. Inzwischen hat sich die Idee verbreitet und es sind weitere Demenzdörfer geplant oder realisiert.
Demenzoasen: Ein international bekanntes Beispiel für eine geschlossene Einrichtung ist das Demenzzentrum Sonnweid in der Schweiz. Seit 1998 leben dort Menschen mit schwerer Demenz in „Oasen“. Diese Wohnform besteht aus einem Mehrpersonenraum von vier bis sieben Personen, das dem Bedürfnis schwer Dementer nach Nähe gerecht wird. Anfangs als Rückschritt zum Mehrbettzimmer kritisch beurteilt, wird dieses Projekt inzwischen häufig kopiert.
Fazit: Nur Vision oder machbar?
In Zukunft sind alle Gebäude alters- und/oder demenzgerecht gebaut. Die Gesellschaft ist aufgeklärt und integriert kognitiv eingeschränkter Menschen mit dem Einsatz von Technik und Modellen wie Buurtzorg. Eine Utopie oder ein Ansatz, über den es sich nachzudenken lohnt? Wer will nicht bis ins hohe Alter selbstständig – und selbstbestimmt – bleiben?
Erschienen in der Fachzeitschrift sgp Report (Ausgabe 17 / 2018). Den Artikel als PDF herunterladen.