▶ DR. SYLVIA BLEZINGER
Das Schweizer Gesundheitssystem ist sehr gut. Und teuer. Und es wird immer teurer. Wird es auch besser? Vielleicht. Die Kosten senken und die Qualität beibehalten oder sogar steigern, geht das? Sicher! Wie? Dazu gibt es viele Ansatzpunkte. Einer davon ist, stärker auf die Psychosomatik zu fokussieren.
Körpersymptome, deren Ursache nicht direkt mit einer Organschädigung in Verbindung stehen, sind allgemein bekannt. Somatische, psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen gehören zum Leben und kommen häufig kombiniert vor. Schon immer hat sich die Psychiatrie mit Psyche und Somatik auseinandergesetzt. Im Alltag angekommen ist dies nicht. Es wird höchste Zeit. Psychische Krankheiten gehören zu den häufigsten, sehr einschränkenden und volkswirtschaftlich bedeutsamsten Krankheiten überhaupt.
Kosten der Psychosomatik sind gut angelegte Investitionen
Bisher wird das Gesundheitssystem über Kosten reguliert. Dies hat keine Zukunftsperspektive, da es zu Downsizing führt. Ein Beispiel sind die Engpässe in der Versorgung von Medikamenten und Medizinprodukten. Der – durchaus erfolgreichen – Preisoptimierung folgte eine Klumpenbildung, die zu den Engpässen führt.
Auch die Unterscheidungen zwischen Unfall- und Nicht-Unfall, zwischen Berufskrankheit und privater Krankheit sind nicht sinnvoll. Besonders bei psychosomatischen Problemen lässt sich diese Unterscheidung nicht mehr treffen. Eine repräsentative Studie, die Workmed, ein Kompetenzzentrum der Psychiatrie Baselland, gemeinsam mit SWICA durchführte, zeigt: «57 Prozent aller psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeiten werden durch Konflikte am Arbeitsplatz ausgelöst. Rund die Hälfte der Krankgeschriebenen verliert den Arbeitsplatz. Arbeitsunfähigkeiten aus psychischen Gründen dauern im Durchschnitt 218 Tage und sind in 95 Prozent der Fälle Vollzeit-Krankschreibungen.» Dadurch entsteht ein grosser volkswirtschaftlicher Schaden. Ausgaben in diesem Bereich können also durchaus als Investitionen angesehen werden. Viele Präventionsprogramme sprechen zudem falsch an. Eine betriebliche Gesundheitsförderung könnte helfen. Anreize müssen geschaffen werden.
Felix Schneuwly ist Leiter Public Affairs und Krankenversicherungsexperte beim Internetvergleichsdienst Comparis in Zürich. Er fordert, dass Therapieziele formuliert werden sollen. Die Kostengutsprachen sollten dann in Abhängigkeit von der Erreichung dieser Therapieziele erfolgen
Qualitäts- und Kostenoptimierung durch Einbezug der Hausärzte
Psychosomatische Beschwerden sind sehr häufig. Dr. Niklaus Egloff ist Präsident der Schweizerischen Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM). Er schätzt, dass sie in der Allgemeinpraxis 20 bis 40 Prozent der Konsultationen ausmachen. Es ist bekannt, dass etwa 80 Prozent der Rückenschmerzen keine organische Ursache haben. Auch er ist der Meinung, dass es zu viele Fehlanreize gibt. Durch gute psychosomatische Behandlungen könnten 30 Prozent der Kosten eingespart werden. Sowohl bei den Leistungserbringern als auch bei den Leistungsempfängern müssten zudem die kommunikativen Hürden niedriger gesetzt werden. Hausärztinnen und Hausärzte sind wichtige Gatekeeper. Dazu gehört Aufklärung und psychosomatische Kompetenz in der Ausbildung.
Verzahnung und Schnittstellen
Der Trend im Gesundheitswesen führt zu mehr ambulanten Leistungen. In der Psychiatrie gibt es sogar erste Studien zur Qualität virtueller Behandlungen: Diese schneiden laut Heleen Riper, Universitätsklinik Amsterdam, sogar besser ab als die Präsenzkonsultationen. Im ambulanten Setting besteht für Pflegefachpersonen nach wie vor das Problem der Finanzierung: Für die meisten pflegerischen Interventionen kann die Behandlung nur nach einer Überweisung erfolgen. Ausserdem ist deren Finanzierung nicht kostendeckend. Dr. Franziska Rabenschlag arbeitet als leitende Pflegerin in den Universitären Psychiatrischen Diensten Basel. Für sie ist die Verzahnung wichtig. Es gibt diese bereits im Ansatz. Das Pflege-Studium an den Fachhochschulen und den Universitäten trägt dazu bei. Grundmodule werden oft zusammen mit Medizin-Studierenden angeboten. Die Studiengänge sind generalistisch ausgerichtet und nicht (mehr) nur somatisch oder psychiatrisch. Durch die bessere Verzahnung zwischen somatischer und psychiatrischer Pflege geht zwar Spezialisierung verloren, die Qualität insgesamt würde jedoch steigen.
Dr. Kerstin Gabriel Felleiter, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefärztin der Luzerner Psychiatrie, freut sich, dass die Sensibilität und das Bewusstsein für psychische Erkrankungen gestiegen sind. Für ambulante psychiatrische Behandlungen gibt es enorm lange Wartezeiten von sechs bis acht Monaten. Der daraus folgende Arbeitsausfall (siehe oben) ist ein gesellschaftliches und auch volkswirtschaftliches Drama. Die langen Wartezeiten auf eine Psychotherapie haben damit auch grosse wirtschaftliche Konsequenzen. Oft werden erst die somatischen Ursachen gesucht, lange behandelt, und als Ultima Ratio folgen Überlegungen zum Einfluss der Psyche. Dr. Felleiter regt an, dass bei allen Diagnosen von Anfang an psychologische Komponenten einbezogen werden, wie dies nach dem bio-psycho-sozialen Modell vorgesehen ist. Ausserdem wäre für alle medizinischen Fachrichtungen Supervision als Standard sinnvoll.
Gedankenspiele zur Qualität und Finanzierung der medizinischen Versorgung in Zukunft
Zunächst einmal: Lernen von den Besseren. Felix Schneuwly wünscht sich mehr Wettbewerb um Ideen und Konzepte. Dieser kommt tatsächlich oft zu kurz. Oft heisst es: «Das ist so bei uns nicht umsetzbar.» Aber vielleicht ein Teil davon? Dazu braucht es natürlich etwas Mut.
Beginnen könnte man in den Schulen mit der Psycho-Edukation. Es gibt wenig Kompetenzen im Umgang mit Emotionen. Beispielsweise könnte im Biologieunterricht nicht nur der Körper, sondern auch die Psyche unterrichtet werden.
Die von Dr. Franziska Rabenschlag geforderte Verzahnung zwischen Somatik, Psychiatrie und Psychosomatik müsste intensiviert werden. Hausärzte oder Advanced Nurses Practicioner (MSc Nursing) könnten als Gatekeeper fungieren. In anderen Ländern (Skandinavien, Niederlande) ist dies bereits der Fall. Es wird neue Berufsbilder geben. Pflege und Konsultation wird in Zukunft online oder via App möglich sein. Und warum nicht die Prävention in den Alltag integrieren? Intelligente Raumplanung, die Bewegung im Alltag fördert, wäre hier eine Möglichkeit. Mit buchstäblich neuen Wegen Kosten sparen, die Qualität steigern. Ein Wunschtraum?
Erschienen in der Fachzeitschrift Heime und Spitäler (Ausgabe 1 / März 2023). Den Artikel als PDF herunterladen.