▶ DR. SYLVIA BLEZINGER
Schaut man sich in der Schweiz um, werden zurzeit allerorten Neubauten in der Psychiatrie geplant oder sind gerade abgeschlossen. Während die Anzahl der Betten in der Somatik zu Recht stetig verringert wird, steigt die Anzahl der Betten in der Psychiatrie kontinuierlich. Dies kann als positives Zeichen betrachtet werden, dass die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen abnimmt.
Eine Psychiatrie zu planen, zu bauen und zu betreiben ist anspruchsvoll. Es gilt, äusserst komplexe Anforderungen zu erfüllen. Die Sicherheit der Patienten und Patientinnen und des Personals ist zu berücksichtigen, und gleichzeitig soll ein Umfeld geschaffen werden, das die Therapie unterstützt und Suizide verhindert. Es muss nicht gleich ein Neubau sein. Ein gutes Farb- und Lichtkonzept bringt bereits eine merkliche Verbesserung.
Seit den ersten Ansätzen der modernen Psychiatrie (Idealtypische Heilanstalt Illenau = zurück zur Natur) im 19. Jahrhundert hat sich viel getan. In den 50er-Jahren folgte die Psychopharmaka-Ära. Bauten und Räume spielten in dieser Zeit kaum eine Rolle. In den 70er-Jahren kam endlich das Ziel der Minimierung von Gewalt und Zwangsmassnahmen auf.
In Modellprojekten haben sich innovative intermediäre Angebote (z. B. mobile Equipen, Triagestellen, Intensiv-Case-Management) bewährt. Sie ermöglichen koordinierte sowie bedarfs- und personenorientierte Behandlungsprozesse. Der Schweizerische Berufsverband für Angewandte Psychologie SBAPB meldet, dass bei den stationären Angebotsstrukturen die Hospitalisationsrate weiter steigt, dass aber die Aufenthaltsdauer rückläufig ist. Zudem hat die Anzahl Langzeitpatientinnen und -patienten in den letzten Jahren deutlich abgenommen.
Herausforderungen für die Psychiatrie der Zukunft
Weitere Reduktion von Zwangsmassnahmen sind wünschenswert und werden so weit wie möglich bereits umgesetzt. Bei diesem Ziel besteht allgemein hohe Übereinstimmung. Eine der grössten Herausforderungen für die Psychiatrie ist jedoch die Entstigmatisierung. Laut dem BAG leidet im Laufe eines Jahres bis zu einem Drittel der Schweizer Bevölkerung an einer psychischen Krankheit. Nur knapp die Hälfte der erkrankten Personen lässt sich behandeln. Prof. Undine Lang, Ordinaria für Psychiatrie Universität Basel und Klinikdirektorin der Erwachsenen Psychiatrische Klinik und Privatklinik, stellte fest, dass Patienten, die auf der Kriseninterventionsstation im Unispital behandelt werden (20%) weniger stigmatisiert sind, als jene auf dem Campus der Psychiatrie. Folgerichtig arbeiten auch die Psychiatrischen Dienste Bern eng mit dem Inselspital zusammen und haben auf dem Areal ihr Kriseninterventionszentrum. Frau Prof. Lang plädiert zudem für eine „Open Door Policy“. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
Open Door Policy
In der Schweiz betreiben nur etwa 10 Prozent der psychiatrischen Kliniken eine Open Door Policy. Die UPK in Basel ist eine davon. Folgende Auswirkungen wurden dabei festgestellt:
❱ Deutliche Abnahme der Rekurse gegen den Aufenthalt unfreiwillig behandelter Patienten bei gleichbleibender FU-Rate (Fürsorgliche Unterbringung) [Arnold et al. 2019, Front Psychiatry]
❱ Abnahme der Isolationen (von 8.2% auf 3.5%) und Zwangsmedikationen (2.4% auf 1.2%) innerhalb von 6 Jahren [Kowalinski et al. 2019, Nervenarzt, Hochstrasser at al. 2018, Eur Psych, Jungfer et al. 2013]
❱ Verbesserung der Stationsatmosphäre und Sicherheitserleben durch RADAR [Fröhlich et al. 2018, Front Psych]
❱ Reduktion der Entlassungen gegen ärztlichen Rat, Anstieg Sicherheitserleben auf neu geöffneten Abteilungen, signifikante Reduktion Zwangsmassnahmen auf neu geöffneten Abteilungen [Blaesi et al. 213, Lo et al. 2016 Psych Prax, Hochstrasser et al. Front Psych 2018]
❱ Kooperationsprojekt Charité Berlin: Reduktion Zwangsmassnahmen, Aggressive Zwischenfälle und keine Auswirkungen auf Entweichungen [Cibis et al. 2017, Psych Prax]
Healing Architecure
Nirgendwo sonst hat die Healing Architecture so viel Gewicht wie in der Psychiatrie. Das St. Alexius-/ St. Josef-Krankenhaus in Neuss, welches zu den modernsten und innovativsten Zentren für psychische Gesundheit in Deutschland zählt, wurde 2012 eröffnet. Bei diesem Neubau ist dem auf Gesundheitsbauten spezialisierten Büro a|sh sander.hofrichter architekten (mit Christ & Gantenbein auch Architekten des Neubaus des Universitätsspitals Zürich) das Zusammenspiel von Architektur, Landschaftsarchitektur, Signaletik und Psychiatrie besonders geglückt. Prof. Linus Hofrichter von a|sh sander.hofrichter architekten formuliert die besonderen Anforderungen an die Nutzung Psychiatrie so:
❱ Bezüge zur Natur herstellen. (Tages-) Licht, Luft …
❱ Flure ans Licht. Fenster, die sich öffnen lassen. Sichtbeziehungen, nach aussen grosszügige, lichtdurchflutetet, aufgeräumte Halle
❱ Schützende Orte. Kein Warten im Durchgangsverkehr oder Flur, Intimsphäre und Sicherheit
❱ Ordnung statt Unordnung
❱ Besprechungsecken ohne den „Schutzwall Schreibtisch“ zwischen Arzt und Patient
❱ Natürliche Materialien, Einsatz von Pflanzen, Wasser
❱ Beachtung der (therapeutischen) Farbwirkung (siehe Artikel von Jeanet Herbst auf Seite 52).
Digitalisierung in der Psychiatrie
Generell ermöglicht die Digitalisierung die ständige Verbindung zum Arzt und kann damit zu mehr Sicherheit nach der Entlassung führen. Nicht zu vergessen sind die Vorteile im Betrieb. Logistikprozesse und Personalplanung wird in Zukunft digital stattfinden. Im vergangenen Jahr hat der Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen (DE) gemeinsam mit den ersten Mitgliedern des Gründungsausschusses seine Pläne zur Errichtung eines „Virtuellen Krankenhauses“ vorgestellt. Die Pilotphase wird demnächst beginnen.
In Australien wurde bereit 2012 mit der Mind-Spot Clinic die weltweit erste nationale Online-Klinik für psychische Gesundheit gestartet. Via Internet bietet die Klinik „Free effective internet delivered psychological assessment and treatment fo stress, anxiety, worry, depression, low mood, OCD and trauma (PTSD)“.
Das Karolinska-Institut in Stockholm bietet die Wahl zwischen einer persönlichen Behandlung vor Ort oder einer Internetpsychiatrie an. Letztere senkt die Hemmschwelle, sich freiwillig in eine psychiatrische Behandlung zu begeben.
Ausblick
Die Entwicklung in der Psychiatrie schreitet sehr schnell voran. Wie sie in 20 oder 30 Jahren aussehen wird, ist daher kaum vorauszusehen. Flexibilität ist deshalb ein besonders wichtiges Kriterium beim Neu- oder Umbau. Ganz sicher werden die Psychiatrien weiter geöffnet. Es wird mehr Wert auf Wohnlichkeit gelegt, um damit die Heilung zu unterstützen. Wo kein Neubau möglich ist, werden Farb- und Lichtkonzepte eingesetzt. Neue Konzepte wie mobile Equipen, Triagestellen, Intensive- Case-Management werden sich verbreiten. Der Zugang zur Psychiatrie wird erleichtert, sei es durch geschickt platzierte dezentrale Anlaufstellen oder ein Online-Angebot. Es müssten für die Zukunft also mehr Betten geplant werden, diese aber für eine geringere Aufenthaltsdauer.
Erschienen in der Fachzeitschrift Heime und Spitäler (Ausgabe 3 / 2020). Den Artikel als PDF herunterladen.