▶ DR. SYLVIA BLEZINGER
Laut WHO-Bericht leben über eine Milliarde Menschen mit einer Form der Behinderung. Das sind 15 Prozent aller Menschen. Dies ist die grösste Minderheit der Welt. 200 Millionen davon haben Schwierigkeiten im Alltag. Diese Zahl steigt an aufgrund des Bevölkerungswachstums, des medizinischen Fortschritts und des höheren Alters.
Im Mockup von Siza testet eine Bewohnerin eine rotierende Küchenarbeitsfläche und gibt Hinweise zur Verbesserung. Der Einsatz von Technik erleichtert unser Alltagsleben in einem Masse, dass wir uns ein Leben ohne Software, Internet, Auto et cetera nicht mehr vorstellen wollen. Das grosse Potenzial ist leicht zu erkennen: Technik zur Steigerung der Lebensqualität von Menschen mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen. Die Zahlen der WHO scheinen zunächst gross. Der Bereich der Schwerstbehinderten ist im Gegensatz zur Gesamtbevölkerung dennoch ein relativ kleiner Markt.
Die niederländische Akademie Het Dorp
In den Niederlanden hat Siza, eine niederländische Pflege- und Servicegruppe für Behinderte, auf Betreiben der Regierung eine Lösung gesucht und gefunden: Mit intelligenten, erschwinglichen Lösungen sollen die Menschen ihr eigenes Leben besser organisieren und das Beste daraus machen können.
Mit der Akademie Het Dorp arbeiten fast 50 Unternehmen, wissenschaftliche Institutionen und Fachkräfte des Gesundheitswesens zusammen. Sie setzen sich auf innovative Weise mit dem Thema Gesundheit auseinander: Gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen entwickeln und testen sie intelligente Lösungen. Innovationen, die das Leben von Menschen mit Behinderungen einfacher und unabhängiger machen. Der Einsatz von Technologie ist dabei unabdingbar. Die Technik soll die Abhängigkeit von Behinderten verringern und damit die Selbstständigkeit erhöhen.
Die Akademie ist angeschlossen an das Pflegeheim für Schwerstbehinderte «Het Dorp». Dieses fungiert als Lehrpark für die Akademie. Die Bewohner lehren, trainieren und zeigen Grenzen auf. Einer der Bewohner, ein 30-jähriger früherer Manager, der nach einem Schlaganfall schwerstbehindert ist, führt Besucher kompetent durch das Dorf. Er freut sich über die neuen Möglichkeiten, die durch die Entwicklungen entstanden sind. Das Heim, in dem er davor lebte, war sehr gut in der Pflege. Zu gut. Er fühlte sich zu sehr bemuttert. Sein wichtigstes Anliegen, das er mit vielen Behinderten teilt, ist nicht die Pflege, sondern die Selbstständigkeit. Sich nur alleine ankleiden zu können, ist für ihn ein enormer Gewinn an Lebensqualität und damit höchstes Ziel.
Der Mockup von Het Dorp
Pflegekräfte sind angehalten zu fragen, was sie tun können, um überflüssig zu werden. 2012 wurde ein Mockup, eine Testwohnung, gebaut, um Technik und Wohnen zu üben. Grösstes Problem bei technischen Entwicklungen sind die Schnittstellen. Ein gutes Beispiel sind Windeln mit Sensor. Der Sensor ist von dem einen Unternehmen, von einem anderen eine pfiffige App zur Überwachung. Erst wenn beide Lösungen miteinander kommunizieren, ist der Nutzen am grössten. Eine All-in-one-Lösung ist generell am komfortabelsten für Nutzer, ganz besonders aber für Nutzer mit Behinderung.
Im Mockup wird live getestet:
❱ Funktioniert die Technik?
❱ Können die Patienten damit arbeiten?
❱ Kann die Pflege damit arbeiten?
In Het Dorp gibt es einige Bewohner, die praktisch als Übersetzer zwischen den Entwicklern und den Behinderten arbeiten. Ein interessantes Beispiel ist ein Human-Support-Robot, der für Schwerstbehinderte entwickelt wurde. Der Prototyp wurde nach nur zwei Stunden im Praxistest zurückgeschickt. Er konnte ein Glas von der Küche zum Tisch bringen. Aber er konnte sich nicht bücken. Da dies eine der grössten Schwierigkeiten von Behinderten ist, war der Roboter damit insgesamt zu wenig hilfreich.
Bewährt hat sich dagegen die rotierende Küche. Der Zugang zu allen Bereichen einer Küche – vor allem bei dem begrenzten Raum einer Privatwohnung – ist für Personen im Rollstuhl kompliziert. In Zusammenarbeit mit den Behinderten von Het Dorp wurde die rotierende Küche entwickelt und optimiert. Auf Knopfdruck (via Touchpanel) dreht sich die Kücheninsel so, dass sich wahlweise die Kochplatten, das Waschbecken oder die Ablagefläche vor dem Nutzer befinden.
Bewährt hat sich auch ein sprechender Roboter. Er überzeugte bei den Autisten, die zwar Anleitung brauchen, aber lieber alleine sein wollen.
Für eine gute Versorgung ist eine gute WLAN-Abdeckung essenziell. Allerdings sind nicht alle Behinderten körperlich in der Lage, ein Touchpanel zu bedienen. Im Mockup sind daher auch noch «ganz normale» Schalter eingebaut.
Technik in Schweizer Pflegeheimen
Frau Professor Misoch von der Fachhochschule St. Gallen hält die Akzeptanz für das Hauptproblem des Einsatzes von Technik in Pflegeheimen in der Schweiz. In einer Studie testeten die Studenten NAO, einen humanoiden Roboter in Pflegeheimen. Es zeigte sich, dass es dabei auf die Pflege-Fachpersonen ankommt. Akzeptieren sie die Roboter nicht, ist der Einsatz zum Scheitern verurteilt. Interessanterweise stellte sich heraus, dass Roboter eher akzeptiert werden, je menschenähnlicher sie sind. Zurzeit wird NAO individuell bei Senioren im häuslichen Umfeld getestet, was vielversprechend anläuft.
Die grösste Ressource an Pflegenden befinde sich in den Büros, sagt Michael Schmieder, Verwaltungsrat des Schweizer Vorzeigeheims Sonnweid in Wetzikon. Er hält es – auch im Hinblick auf die begrenzten Personalressourcen – für wichtig, die fachfremde Büroarbeit soweit wie möglich zu automatisieren. Auf einer Konferenz der Blezinger Healthcare im Juni 2019 stellte er eine eigens entwickelte Software vor. Es handelt sich um ein digitales Portal für alle Bereiche eines Heims! Die hohen Kosten einer solchen Entwicklung sind allerdings von kleinen Heimen alleine kaum zu tragen. Eine Zusammenarbeit mehrerer Heime kann die Lösung sein.
Fazit
Grundlage für die Entwicklungen in den Niederlanden ist der politische Wille, möglichst viele pflegebedürftige Menschen so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung daheim zu lassen. Mithilfe von Technik ist es leichter möglich, Angehörige, Freunde und Nachbarn einzubinden. Der Einsatz moderner Technik kann die Lebensqualität von Behinderten enorm verbessern. Die Zusammenarbeit von Unternehmen und Heimen wie Het Dorp ist eine Idee für die Zukunft ebenso wie die Zusammenarbeit verschiedener Heime, wenn es um die Entwicklung teurer Lösungen geht. Kooperation ist das Zauberwort.
Erschienen in der Fachzeitschrift Heime und Spitäler (Ausgabe 4 / Oktober 2019). Den Artikel als PDF herunterladen.