▶ DR. SYLVIA BLEZINGER
Ist Innovation Digitalisierung? Ein Joker-Wort, das im Moment hauptsächlich für Online-Meetings und Homeoffice steht. Was ist Innovation? Neue Konzepte, die Verbesserungen bringen und umsetzbar sind.
Digitalisierung heisst nicht, handschriftliche Aufzeichnungen in elektronische Akten zu übertragen oder PDF-Dateien aus Papier zu erstellen. Die Digitalisierung geht einher mit einer Veränderung und sinnvollerweise mit einer Vereinfachung der Prozesse. Sie erleichtert die interprofessionelle und interdisziplinäre Kommunikation, die in Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen wird.
Vieles wird aktuell aus schierer Notwendigkeit eingeführt, beziehungsweise umgesetzt. Die Telemedizin ist während einer Pandemie sehr hilfreich. Im Moment herrscht eine grosse Dynamik, der Politik und Rechtsprechung hinterherhinken. Bisher war es rechtlich kaum möglich, Online-Konsultationen durchzuführen. Auf Basis kantonaler Gesetze hatten Patientenkontakte real stattzufinden. Über das Notrecht ist dies nun möglich. Erste Ansätze gibt es bereits. Durch Digitalisierung könnten mehr (chronisch) Kranke länger im häuslichen Umfeld behandelt werden. Wie viele an Demenz Erkrankte oder Pflegebedürftige hätten mithilfe von Technik weiter zu Hause leben können und wären während der Pandemie nicht in Institutionen eingesperrt gewesen.
Yvonne Gilli ist Präsidentin der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Sie forderte im September 2020 im Rahmen eines Vortrags bei der Fachkonferenz „Das Pflegeheim der Zukunft“ mehr Kompatibilität der digitalen Infrastrukturen. Auch die tarifliche Abgeltung der Telemedizin fehle noch. Insgesamt würde zu wenig Geld in diesem Bereich investiert. Gilli wünscht sich mehr Anreize für Softwareangebote. Anreize stellen in diesem Bereich wichtige Weichen für zukünftige Innovationen. Diese Konferenz und andere Konferenzen wurden 2020 erstmals aufgezeichnet (und sind noch immer online). Eine der positiven Auswirkungen der Reisebeschränkungen auf die Innovation. So konnten – und können noch immer – viele Teilnehmende dabei sein, ohne reisen zu müssen.
Das Vorzeige-Demenzdorf – wieder einmal ganz vorne
Das Demenzdorf de Hogeweyk in Weesp in den Niederlanden existiert bereits seit 2009. Es wurde international bekannt und gefeiert durch seine innovative Idee einer in sich geschlossenen Einrichtung, die den Bewohnern ein Leben wie in einem kleinen Dorf ermöglicht. 2020 zeigten sich die Vorteile der De-Institutionalisierung: Die Einschränkungen für die Bewohner waren geringer als in anderen Heimen. Auch im 12. Jahr nach der Eröffnung lässt die Innovationskraft nicht nach. Die Pandemie hatte gerade begonnen, da setzten sich die Verantwortlichen von de Hogeweyk bereits zusammen und überlegten neue Konzepte. Heraus kam die interessante Idee virtueller Führungen. Diese sind aktuell die einzige Möglichkeit, die Idee des Demenzdorfes besser kennenzulernen und weiter zu verbreiten. Das hochwertige Konzept ist zudem zukunftssicher: Wer aus organisatorischen oder ökonomischen Gründen nicht in die Niederlande reisen kann, hat somit doch die Möglichkeit, das Demenzdorf kennenzulernen und mit den Verantwortlichen live zu diskutieren. Auch lassen sich so die Besucherströme besser regulieren, sodass es für die Bewohner nicht zu viel wird.
Akzeptanz führt zur Realisation
Mit der zunehmenden Akzeptanz der Video-Telefonie können viele neue Ideen realisiert werden. Unter anderen zusammen mit Frank van Dillen, dem Architekten von de Hogeweyk, hat Blezinger Healthcare im vergangenen Jahr ein neues Konzept entwickelt: Eine modulare Online-Beratung. Vorausgegangen war die Frage, wie die Netzwerke von Experten trotz der Reiseeinschränkungen sinnvoll eingesetzt werden können. Ein Pilotprojekt läuft seit Ende 2020 sehr erfolgreich. Eine Pflegeheim-Gruppe wünschte sich Unterstützung bei der Planung ihres Neubaus. Internationale Experten wurden online herangezogen zu einem „Reality Check“. Daraus entwickelte sich eine ständige Begleitung der Führungspersonen via Video-Telefonie. Durch die Einsparung von Reise- und Präsenzzeit ein kostengünstiges Konzept, das sich aufgrund des Modulsystems jedes Pflegeheim leisten kann.
Kontakte in Heimen und Spitälern
Sind persönliche Kontakte nicht möglich, ist der virtuelle Kontakt essenziell. Die Bedeutung virtueller Kontakte ist trotz der Pandemie immer noch nicht überall angekommen. Zwar stellen inzwischen viele Heime den Bewohnerinnen kostenloses WLAN zur Verfügung. Die Geräte und die technische Betreuung sind jedoch nach wie vor privat organisiert. Allen Bewohnerinnen ein Tablet zur Verfügung zu stellen und sie entsprechend einzuweisen, sollte möglich sein. Was zweijährige Kinder schaffen, ist auch alten Menschen zuzutrauen. Auch wenn sie anfangs zögern, erhöht es ihre Lebensqualität deutlich.
Die Versorgung durch Roboter in Zeiten von Pandemien ist ebenfalls sinnvoll. Es ist bedauerlich, dass hier die Entwicklung noch nicht weit genug verbreitet ist. Roboter (z. B. die Robbe Paro) können einerseits fehlende Kontakte „überbrücken“, als Ansprechpartner dienen und sogar Teile der Pflege übernehmen.
Die deutsche Caritas hat den Einsatz von Virtual Reality-Brillen für weniger mobile Bewohner in Pflegeheimen getestet und evaluiert. Das Projekt wird begleitet von der Katholischen Hochschule in Nordrhein-Westfalen. Für die Nutzerinnen wird damit beispielsweise ein „Rundgang“ durch die alte Heimatstadt noch einmal möglich. In der Studie werden die Vorteile deutlich herausgestellt, allerdings gleichzeitig davor gewarnt, durch Technik fehlende finanzielle und/oder personelle Mittel zu kompensieren.
Bei allen Vorteilen dieser neuen Konzepte: Keine Technik ersetzt den persönlichen Kontakt! Dieser ist vielleicht nicht so häufig unbedingt erforderlich wie gedacht, allerdings kann die Atmosphäre eine Gruppe oder sogar eines Gebäudes nur durch Präsenz „erspürt“ werden. Auch dies ist eine Lehre aus dem vergangenen Jahr.
Datenschutz
Besonders im Gesundheitswesen werden hochsensible Daten bewegt. Der Datenschutz ist enorm wichtig. Zugangsberechtigung, Übermittlung und Speicherung müssen zwingend verschlüsselt sein und Politik und Wirtschaft müssen dem Reiz widerstehen, den die enorme Datenmenge ausübt. Das Schweizerische Datenschutzgesetz ist noch nicht verabschiedet, wird sich an aber an europäisches Gesetz anlehnen. Es wird noch anspruchsvoll für Pflegeeinrichtungen.
Dennoch gilt: Lassen Sie uns offen sein gegenüber dem digitalen Wandel. Er kommt sowieso, machen wir es doch gleich richtig.
Erschienen in der Fachzeitschrift Heime und Spitäler (Ausgabe 1 / März 2021). Den Artikel als PDF herunterladen.