Es wird keine Altersheime mehr geben. Das ist europa- weit Konsens. Doch was tritt an deren Stelle? Modelle aus dem Ausland könnten wichtige Impulse für die Schweiz geben. Ein Blick über die Grenzen.
Betreutes Wohnen wird zunehmend in Kombination mit Heimprojekten angeboten. Etliche Projekte entstehen aus Eigeninitiative. Beispiele hierfür sind das berühmte und sehr erfolgreiche Modell Buurtzorg in den Niederlanden oder hierzulande die aktuellen Zürcher Projekte Kalkbreite und Kochareal. Die ambulante Betreuung in der häuslichen Umgebung wird, auch aus ökonomischen Überlegungen heraus, inzwischen favorisiert, was den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen sehr entgegenkommt.
In Dänemark gibt es schon jetzt keine Altersheime mehr. Dort wurde die Seniorenbetreuung vor 25 Jahren revolutioniert. Damals lebten noch 80 Prozent der Pflegebedürftigen in einem Altersheim. Heute sind wenig mehr als 10 Prozent an eine traditionelle Institution gebunden. Seit dem im Jahr 1987 verabschiedeten Reformgesetz sind alle Neubauten Seniorenwohnungen mit Pflege- und Betreuungseinrichtungen und angeschlossenem Personal. Die erste Devise der Pflegereform hiess: Möglichst lange im eigenen Zuhause leben und Pflegebedürftige lieber durch Heimhelfer und Krankenpfleger daheim betreuen, als sie zu entwurzeln und in eine Institution umzupflanzen. Das ist humaner und dazu noch kostengünstiger für die Gesellschaft. Professor Jos Schols von der Maastrichter Universität geht sogar noch weiter und fordert proaktive Pflege durch die Kommunen.
Die zweite Devise in Dänemark heisst: Jeder soll möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben führen. Das bedeutet aber auch, ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen. Wer nicht permanent eine Pflegeperson an der Seite hat, ist einem grösseren Risiko ausgesetzt. Es handelt sich um eine ethische Abwägung der Vor- und Nachteile, die in anderen Ländern Eur pas mit anderem Ergebnis geführt wird als hierzulande.
Doch auch bei uns geht die Tendenz eindeutig dahin, alles zu tun, um die Institutionalisierung alter Menschen zu vermeiden. Es gibt genug Gründe, die dafür sprechen: Institutionen sind teuer, Altern daheim ist EU-Richtlinie, Altern daheim ist der Wunsch der meisten Personen. Und – es gibt nicht genügend Pflegekräfte.
Das Thema Personal beschäftigt uns noch lange
Erst vor Kurzem, im Juli 2018, machte der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn eine drastische Ankündigung: Er will die 50000 fehlenden Pflegestellen in Deutschland mit Pflegekräften aus Südosteuropa besetzen. Das ist die eine Möglichkeit, auf den Personalmangel zu reagieren. Die andere Möglichkeit ist, die Prozesse beziehungsweise die Pflege so zu optimieren, dass bei gleichbleibender Qualität weniger Personal benötigt wird. Während der Konferenz «Alters- und Pflegeheime der Zukunft» in Luzern forderte Hannes Wittwer, Geschäftsführer der Senevita, vor Direktoren von Pflegeheimen aus dem In- und Ausland eine grössere Spezialisierung in der Pflege, beispielsweise eine Gerontopsychiatrie oder eine Demenzpflege. Auch hier sind die Niederlande Vorreiter: Es gibt bereits seit Jahren das eigene medizinische Fachgebiet des Nurse Practitioners (Pflegemediziner) entsprechend dem General Practitioner (Allgemeinmediziner).
Digitalisierung in der Pflege
Vor dem Hintergrund des knappen Pflegepersonals ist eine Ablehnung von Technik nach dem Motto «Ich bin gegen Roboter, weil ich gegen Roboter bin» nicht nur irrational, sondern angesichts der prekären Situation auch nicht mehr sinnvoll. Patientenlifte zur Entlastung des Personals sind in den Niederlanden für jeden Raum vorgeschrieben. Die Schweiz, Deutschland und andere europäische Länder sind da noch lange nicht so weit. Dabei wäre ein grosser Teil des Personalproblems bereits gelöst, wenn die Pflegekräfte nicht mehr wegen Rückenschmerzen ausfallen beziehungsweise einige Jahre länger arbeiten würden.
Während viele technische Ideen, beispielsweise Beamer mit Spielen zur Aktivierung der Bewohner oder der Robben-Roboter noch in der Erprobungsphase sind, ist bereits jetzt klar, dass die Digitalisierung vor den Pflegeheimen nicht Halt machen wird. Für einen WLAN-Internet-Hotspot sehen zurzeit viele Heimbetreiber aufgrund der Altersstruktur keinen Handlungsbedarf, allerdings nutzten einer ProSenectute-Studie zufolge im Jahr 2015 bereits 45 Prozent der Senioren ab 75 das Internet. Heute sind es mit Sicherheit deutlich mehr. Aus den Heimen werden bereits Fotos von Mahlzeiten auf Facebook gepostet (mit oder ohne WLAN). Eine Strategie für einen intelligenten Umgang mit der modernen (digitalen) Technik ist für jedes Heim unbedingt empfehlenswert.
Ebenfalls interessant und in Ansätzen bereits realisiert: Die «Uberisierung» der Pflege. Hier wird die Pflege über eine Internet-Plattform vermittelt. Teilweise sind die Pflegenden auch Angestellte des Plattformbetreibers.
Neue Modelle des Wohnens und der Pflege
Aus den Niederlanden kommt ein weiteres spannendes Modell, mit dem Pflegekräfte gewonnen und gehalten werden können: Das Modell Buurtzorg (Nachbarschaftshilfe). Dies ist ein ambulanter Krankenpflegedienst, der inzwischen stolze 10000 Mitarbeitende zählt.
Der erste Schritt ist dabei die Beratung und Begleitung der Patienten darüber, wie sie selbst dazu beitragen können, ihre Unabhängigkeit zu erhalten oder wieder zu erlangen. Der zweite Schritt ist der Aufbau eines informellen Netzwerks bestehend aus Familienangehörigen, Nachbarn und Freunden. Die dritte Ebene der Betreuung umfasst die tatsächlichen pflegefachlichen Tätigkeiten, die vom zuständigen Buurtzorg-Team geleistet werden. Diese Teams sind völlig dezentral und eigenständig organisiert. Als vierter Schritt erfolgt der Aufbau, die Pflege und die Koordination eines stabilen verlässlichen formalen Netzwerkes bestehend aus Hausarzt, Spezialisten (beispielsweise Physiotherapeuten), Apotheke, Krankenhaus, und gegebenenfalls anderen lokalen und überregionalen Diensten wie beispielsweise eine Dialyse, die Patienten in Anspruch nehmen. Belgien hat dieses Modell bereits übernommen, und auch in Deutschland gibt es dazu konkrete Ansätze.
Demenzmodelle – Inklusion, Zäune oder …?
Besonders interessant ist die Idee des Demenzdorfes. Prof. Jos Schols von der Maastrichter Universität ist sicher: Kleinteiliges Wohnen erhöht die Lebensqualität von Dementen. Zu weltweiter Bekanntheit gebracht hat es das erste Projekt dieser Art, das niederländische Demenzdorf De Hogeweyk. Dieses Vorzeigemodell ist zwar schon etwas älter (eröffnet 2009), aber immer noch beeindruckend. Und es funktioniert. Es ist konzipiert als der letzte Wohnort der Menschen, die durchschnittlich noch maximal 2 Jahre Lebenserwartung haben. Durch die recht selbstständige und aktive Lebensweise ist weniger Aktivierung nötig, und es werden weniger Medikamente verabreicht.
Das Demenzdorf Rietveld in Alphen ist sechs Jahre jünger und ähnlich konzipiert. Hier zeigt sich allerdings ein interessanter Unterschied: Im Gegensatz zu De Hogeweyk trägt das Personal in Rietveld (auf eigenen Wunsch) Uniform. Damit ist der Eindruck eines normalen Dorfes abgeschwächt und der eines Pflegeheims stärker im Vordergrund.
Das Architekturbüro Molenaar&Bol&VanDillen Architecten, das de Hogeweyk realisiert hat, übertrug seine Erfahrungen in ein weiteres Demenzdorf in Dänemark, Aalborg. Inzwischen hat sich die Idee verbreitet und es sind weitere Demenzdörfer geplant bzw. bereits realisiert (Tabelle 1).
Mein Fazit: Die Politik ist träge, wir sind träge. Dabei brauchen wir schnell neue Angebote, sowohl um die geänderte Nachfrage zu befriedigen, als auch um die Finanzierung gewährleisten zu können. Die Zukunft gehört neuen Modellen mit flexiblen Gebäuden und Freiraum für Individualität.
Erschienen in der Fachzeitschrift Best Partner (Ausgabe 2018). Den Artikel als PDF herunterladen.